Die Leiden der Meister





Ein Blick auf die Lebensgeschichte vieler spiritueller Meister zeigt ein vielfältiges Bild voller eigenartiger Widersprüche und außerordentlicher Leiderfahrungen. Wie kann es sein, dass ein Leben in aufrichtiger Ausrichtung auf Gott, in erleuchtetem Sein ein solches Maß an Leid beinhaltet?

Welche Bedeutung liegt in dem Bild eines blutüberströmten Jesus am Kreuz, geplagt und unfassbaren Schmerzen, der nach der Überlieferung auch noch den radikalen Gotteszweifel ausdrückt: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Kaum ein größerer Leherer in der Geschichte, kaum ein größeres Leid vorstellbar. Der theologische Hinweis, Jesus habe die Menschen durch sein Leid von ihren Sünden erlöst, bedarf einer Ergänzung. Auch auf persönlicher Ebene hat dieses Bild große Aussagekraft für unser Leben. Aber dazu später.

In der Geschichte großer christlicher Heiliger ist Leiden und Krankheit allgegenwärtig. Augustinus, Teresa von Avila, Franziskus von Assisi, Mutter Teresa, die Beschreibung ihrer Leiden reicht von lebenslangen Depressionen, gewaltigen Schmerzen bis zu immer wieder ausgedrückter Verzweiflung am Leben. Weltliche Gemüter sind hier schnell mit Schlussfolgerungen, die im christlichen Weltbild eine Leidbetonung vermuten, welche eine geradezu masochistische Aufopferung der Gläubigen mit sich bringt.

Allerdings zieht sich ein ähnliches Bild durch ein viel größeres Universum an Glaubensrichtungen und spirituellen Lebenswegen. Einer der größten Gurus der neueren Geschichte, Bhagwan Ranjesh, später als Osho bekannt, wirft in vieler Hinsicht Fragen zur Natur von Erleuchtung und Schattenanteilen spiritueller Meister auf. Obwohl kaum jemand, der ihm begegnet ist, an seiner Erleuchtung gezweifelt hat, und viele seiner Lehren herausragende Quellen spiritueller Weisheit sind, war sein Leben durchzogen von Widersprüchlichkeiten. Diese wären Thema für eine eigene Betrachtung, herausgreifen möchte ich an dieser Stelle nur die Krankheiten, an denen er litt. Geplagt von Symptomen wie schweren Bandscheibenleiden, massiven Allergien, die es ihm größtenteils unmöglich machten, mit Menschen in Kontakt zu sein, bis zu einem Herzversagen, dem er im Alter von nur 58 Jahren unterlag. Vorträge konnte er zum Teil nur abgeschirmt unter einer Glaskuppel halten, weil sein Immunsystem auf alle Arten von Keimen mit lebensbedrohlichen Symptomen reagierte.

Aus dem buddhistischen Zugang gibt einer der Wegbereiter des Buddhismus im Westen, Suzuki Shunry, der als Meister in den USA lebte, Anlass für eine differenzierte Frage nach dem gängigen Symbolverständnis von Krankheiten: Warum stirbt ein Meister, der Reduktion und Einfachheit lebt, ausgerechnet an Krebs, ein Krankheitsbild, welches üblicherweise mit Übermaß und anderen Verirrungen in Verbindung gebracht wird.

Einer der großen Meister der Gegenwart, der Begründer der Integralen Philosophie, Ken Wilber, ist verankert sowohl in tiefster Spiritualität wie in wissenschaftlichen Zugängen zu Medizin und Therapie. Gleichzeitig leidet er seit Jahrzehnten unter den unerträglichsten Leidenszuständen, über lange Zeit ohne medizinische Erklärung, inzwischen in ausgewählten Fachkreisen als REDD bezeichnet. Diese Enzymmangelerkrankung fesselt ihn oft über Wochen ans Bett, macht Alltagsverrichtungen oder gar einen geregelten beruflichen Tagesablauf unmöglich und ist neben enormen Schmerzen mit lebensbedrohlichen Begleitsymptomen verbunden. Nur mit den besten medizinischen Methoden und um Haaresbreite hat er einige schwere Krankheitsphasen überlebt. Dennoch ist er noch immer einer der einflussreichsten spirituellen Philosophen unserer Zeit.

Die Auswahl der erwähnten spirituellen Meister hat für mich besondere Bedeutung, als alle genannten in meiner persönlichen Beschäftigung mit spirituellen Themen wesentliche Bezugspunkte waren. Ihr Ideen und Aussagen haben mich bereichert, inspiriert und begleitet.

Krankheiten und Leiden großer Geister beschränken sich auch nicht auf spirituelle Meister. Die vielleicht größten Geister der Philosophie, Nietzsche, Schophenhauer, Spinoza, waren mit körperlichen und anderen Widrigkeiten in einem Maß konfrontiert, welches den meisten von uns unerträglich erschiene.

In der spirituellen und esoterischen Literatur wird oft Bezug genommen auf eine fortschreitende Entwicklung in Richtung Ganzheit, welche letztlich auch Gesundheit miteinschließt. Kurz gefasst lautet dabei die Annahme, dass ein Leben in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Universums (im Fluss des Lebens oder mit Gott) Gesundheit und Zufriedenheit mit sich bringe. In einer radikaleren Ausprägung ist es die Auffassung, wer unglücklich oder etwa deppresiv ist, ist auf dem Weg irgendwo falsch abgebogen, diese Zustände führen ihm dies vor Augen und geben ihm Hinweise für den richtigen Weg.

Unsere Sehnsucht nach Antworten und Erklärungen - je klarer desto besser - ist so groß, dass sie vor keinem Lebensbereich und kaum einer spirituellen Richtung halt macht. Aber der Umstand, dass alles was im Universum geschieht, eine tiefere Bedeutung hat, heißt nicht, dass wir diese erfassen können. Und ganz wesentlich: Nicht jedes Leid ist durch "richtiges" Verhalten oder Bewusstsein vermeidbar. Mit unserem beschränkten menschlichen Verstand können wir die Wahrheit einfach nicht in ihrer Gesamtheit erfassen.

Zurück zu Jesus, Buddha und spirituellen Meistern. Jesus konnte sein Leid nicht vermeiden. Der Aufruf "Herr, lass diesen Kelch an mir vorüberziehen!" änderte nichts an dem bevorstehenden Kreuzweg. Wenn Buddha´s höchste Erleuchtung mit dem Ausspruch "alles Leben ist Leiden" ausgedrückt wird, lässt dies auch vermuten, dass es nicht ganz einfach sein wird, dieses mit Affirmationen, Meditation, Therapie oder dem richtigen spirituellen Bewusstsein zu überwinden. 

Daraus zu schließen, der spirituelle Weg, Therapien und all unsere menschlichen Bemühungen seien zwecklos, ist allerdings zu schnell geschossen. Wir sind am Weg, erkennen scheinbare Fehler, bewegen uns weiter, wissen aber trotzdem nicht, was geschehen wird. Wir erfahren Tiefe, Ganzheit, Liebe, und alles bleibt im Fluss. Schmerz, Dunkelheit und Leid sind Teil der Erfahrung. Auch wenn uns unsere Fortschritte noch so offensichtlich erscheinen, wir Unsicherheiten und Ängste am Weg zurückgelassen haben, bleibt das Leben ein Mysterium. Egal wo wir uns auf unserem Weg befinden: Im Rücklick erkennen wir, dass alles dazugehört, und mit etwas Glück (oder wollen wir sagen: Gnade?) lösen sich all diese scheinbaren Widersprüch auf und wir erinnern uns gar nicht mehr, was denn eigentlich die Frage war.


Stefan Süss