Weg ins Licht?





Ist der spirituelle Weg der Weg ins Licht? Sollten wir alles daran setzen, uns auf das Licht auszurichten? Uns mehr und mehr von unseren Schatten befreien?

In fast allen spirituellen Traditionen und Lehren wird auf eine Erfahrung von Erleuchtung Bezug genommen. Der Zustand höchsten Bewusstseins, sozusagen das Ziel spiritueller Ausrichtung, wird mit Licht und Liebe in Verbindung gebracht. Auch wenn Worte diesen Zustand nicht beschreiben können, sind diese Metaphern doch weit verbreitet. Im christlichen Kontext wird der Schatten durch den Teufel, das Böse, repräsentiert.

Dieses Bild leuchtet im wahrsten Sinne des Wortes ein, und doch birgt es, wie fast alle spirituellen Wahrheiten, viele mögliche Missverständnisse in sich. Denn es geht nicht darum, so viel Licht wie möglich in unser Leben zu bringen, zu versuchen, alle Schatten zu überwinden und endlich aufzusteigen in lichtvolle Sphären. Dieser wie ich sagen würde "spirituelle Irrtum" ist in der esoterischen Literatur und noch mehr in esoterischen Kreisen sehr verbreitet.

All die "Lichtarbeiter", die mit unterschiedlichen Methoden versuchen, einen Zustand von reiner Liebe und lichtvollem Sein zu verwirklichen, sehen sich in der konkreten Erfahrung damit konfrontiert, dass die Schatten nur ihre Richtung ändern, und je nach Überzeugung wird ein bestimmtes Maß an Verleugnung der Schattenanteile in sich und der Welt an den Tag gelegt.

Viele spirituelle Meister zeigen in ihrem eigenen Leben ein deutliches Bild davon. In unterschiedlichen Ausprägungen kommen die Schatten ihrer Persönlichkeit zum Ausdruck, im schlimmsten Fall auch zum Leidwesen der Schüler. Auch ganze Glaubensrichtungen sind davon betroffen. Das Ideal des Verzichts auf irdische Liebe und die ausschließliche Ausrichtung auf die Gottesbeziehung bringt in der Realität der meisten zölibatären Menschen verschiedener Konfessionen unübersehbare Schatten zutage, die durch strenge Vorschriften und Ächtung im Zaum gehalten werden sollen. Auch wenn dieses Ideal aus spiritueller Sicht ein wunderbarer Zustand ist, lässt sich der Schatten nicht leugnen und ist die praktizierte Körper- und Lustfeindlichkeit mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der angemessene Weg zur Erreichung dieses Ideals.

Im Namen des Glaubens werden sowohl von spirituellen als auch von religiösen Menschen oft wichtige Teile der Realität ausgeblendet oder unterdrückt. Auch wenn die genannten Aspekte für viele auf ihrem erfüllten Weg an Bedeutung verlieren, der Versuch sie zurückzudrängen, um im christlichen Glauben Gott oder in anderer Terminologie dem Licht näher zu kommen, kann nicht gelingen.

Insbesondere die Schatten des Ego sind auf dem spirituellen Weg sehr wandelbar und finden in verschiedensten Ausprägungen durch die Hintertür zu neuer Entfaltung. Eine besondere Verlockung besteht etwa darin, spirituelle Erfahrungen als etwas Besonderes zu betrachten, etwas das einen selbst über andere, die keinen Zugang dazu haben, heraushebt. Auch die Beurteilung, wie weit jemand auf seinem (spirituellen) Weg ist, ist eine große Versuchung. Schließlich kann man bei anderen relativ leicht unerfüllte Anteile ausmachen. All diese Zuschreibungen von außen sind mit großer Vorsicht zu betrachten. Schließlich kann es gut sein, wie es etwa im Kurs in Wundern gelehrt wird, dass alle Wesen gleich weit von der Erleuchtung entfernt sind, und nur gemeinsam "erlöst" werden können. Wenn alles, was wir im außen wahrnehmen, immer nur Aspekte von uns selbst sind, was Inhalt vieler spiritueller Zugänge und im Rahmen der Wissenschaft der konstruktivistischen Systemtheorie ist, kann ich nur gemeinsam mit dem letzten Glied der Kette von der Illusion befreit werden.

Wenn es denn so etwas wie individuelle Erleuchtung gibt, womit auch ein Zwischenzustand auf dem Kontinuum zur allumfassenden Einheit beschrieben werden kann, dann schließt diese jedenfalls den Schatten mit ein. Nur durch vollständige Annahme aller dunklen Seiten, aller Fehler und Unzulänglichkeiten, kann innerer Frieden entstehen. Ein Kampf gegen die Dunkelheit ist nicht zu gewinnen. Nach einer beliebten Metapher kann man die Dunkelheit nicht durch das Hinaustragen in Kübeln beseitigen, sondern nur durch das Anzünden einer Kerze bzw. eines Lichtes. Darüber zu meditieren, was durch dieses Anzünden nun mit den Schatten passiert, könnte für viele Lichtarbeiter sehr erhellende Erfahrungen bergen.

Stefan Süss | integrale-praxis.at